In eigener Sache: Der lange Abschied

Verehrte Leserschaft!


Lange Zeit war es still auf diesen Seiten – und das wird auch so bleiben.


Aus verschiedenen Gründen habe ich mich entschieden, die Arbeit am Blog “Buecherrezension”, den ich seit 2013 betrieben habe, einzustellen.
Dem Format jedoch werde ich treu bleiben. Wer also weiterhin gerne Texte aus meiner Feder zu lesen wünscht, der sei auf die neue Seite https://marinoferri.com/ verwiesen.


Die Inhalte von buecherrezension.com werde ich nicht migrieren, sondern so auf dieser Seite stehen lassen, wo sie weiterhin eingesehen werden können.


Es war eine spannende und lehrreiche Zeit – und ich hoffe, einige Leser und Leserinnen auch auf der neuen Plattform zum erlesenen Publikumskreis zählen zu dürfen!

Mit zukunftsfrohem Gruss

Marino Ferri

Germanisten-Kitsch: Zu Bodo Kirchhoffs “Widerfahrnis” (Frankfurter Verlagsanstalt, 2016)

Situationen der Widerfahrnis, analysiert Bernd Amos, seien “durch das Auftreten einer radikal unverständlichen Befindlichkeit gekennzeichnet”. Der Begriff stammt aus dem Werk Martin Heideggers; im Duden ist er (noch) nicht verzeichnet. Der deutsche Autor Bodo Kirchhoff betitelte seinen jüngsten Text mit dem für viele Zungen wohl ungewohnten Wort – und schob den Untertitel “Eine Novelle” nach. Das wirkt adäquat, scheint doch auf den ersten Blick das nach Goethe sprichwörtliche zentrale Charakteristikum der Novelle, die “unerhörte Begebenheit”, gut zur “radikal unverständlichen Befindlichkeit” der Widerfahrnis zu passen.

Worum geht’s? Julius Reither, unfreiwilliger Frührentner um die sechzig, Generation 68er, ehemals Kleinstverleger, dessen Bücher niemand mehr wollte, ist aufs Land gezogen, wo er rauchend und käse-mit-schinken-umwickelnd einem ungewissen Lebensabend entgegendämmert. Eines Abends steht die etwas jüngere Leonie Palm vor seiner Türe, die Leiterin der lokalen Lesegruppe, auch sie unverhoffte Frührentnerin, und erkundigt sich nach einem Buch, das sie Reither Stunden zuvor aus einem Regal hat ziehen sehen. Reither und die Palm sind bepackt mit unverarbeiteten biographischen Traumata – die tote Tochter, die nicht-gewollte Tochter – , denen sie gegenseitig vorsichtig auf die Spur zu kommen suchen.

Eh man sich aber versieht, sitzen die beiden in Leonies BMW und fahren in Richtung eines Bergsees, wo sie den Sonnenaufgang bestaunen wollen. Doch die Fahrt endet nicht, sie führt weiter über den Brenner nach Italien, quer durch den Stiefel über Bari bis ganz hinab, wo das seltsame Paar mit der Fähre nach Sizilien übersetzt. Bahnt sich ein neuer Frühling der Liebe an?

Auftritt “unerhörte Begebenheit”: sie tritt uns in Form eines Flüchtlingsmädchens gegenüber, das von Julius und Leonie in einem Akt, der weniger wie Adoption, mehr wie Raub wirkt, annektiert wird und für kurze Zeit dieses Trugbild einer Familie komplettiert. Als die beiden sie mitnehmen wollen auf den Rückweg, bricht sie aus, hinterlässt nichts als ihr Schweigen und einen tiefen Schnitt in Reithers Hand.

“Sie beide jedenfalls, die Palm und er, sie bummelten, weil bummeln gelernt sein will, er mit Zigarette in der Hand, sie mit dem kleinen Gerät, mit dem sich so schnell nebenbei ein Foto machen liess, während das Mädchen mit leeren Händen zwischen ihnen ging und nicht recht wusste, wo es hinschauen sollte, als sie an den Läden vorbeikamen mit nichts als Juwelen im Fenster, so schien es, zur Schau gestellt auf Samt oder Marmor, auch wenn es nur Handtäschchen waren, für die man mehr hätte hinlegen müssen als er früher für ein ganzes Buch, vom Vorschuss bis zu den Druckkosten.”

(Danach kommt es zu einer weiteren unerhörten Begebenheit, als Reither, der Leonie kurzzeitig verloren hat, eine nigerianische Flüchtlingsfamilie, Eltern und kleines Kind, bei sich im fremden Wagen aufnimmt und mit ihnen die Rückreise in Angriff nimmt.)

Kirchhoffs gestelzte, in weitschweifigen Schachtelsätzen verirrte Sprache, wirkt auf mich oftmals zäh. Meine Hauptkritik an “Widerfahrnis” aber ist eine andere: der Text ist purer Germanisten-Kitsch. 

Was heisst das? Kirchhoff lässt seine beiden Protagonisten Situationen von unsäglich klischeetriefender Schmonzetten-Romantik durchleben; er weidet diese Situationen genussvoll aus, mit ausführlichem Blick für die banalsten Alltagshandlungen (Literaturkritiker sprechen in solchen Moment oft irreführend von “guten Beobachtern”); er versucht, sich dabei jedoch abseits des geläufigen Kitschs zu positionieren, indem er Reither ein ums andere Mal Reflektionen anstellen lässt: über die gewählten Worte, über die Klischeehaftigkeit der Situationen, und – da läuft jedem Germanisten und sicherlich vielen Kritikern der Speichel sintflutartig im Munde zusammen – über das Erzählen selbst.

Das Problem: es ist und bleibt Kitsch. Gefangen in einer schwermütig drückenden Sentimentalität, vor welcher der Protagonist bisweilen, “die Hände wieder erhoben wie gegen den Wörterdruck”, sprachlos kapitulieren muss.

Mir stellte sich zudem die Frage, was der Text im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Flüchtlingsdiskurs zu leisten vermag. Reither zeigt zwei zentrale Tendenzen in seinen Begegnungen mit Flüchtlingen: zum einen eine scheinbar spontane, unerwartete Grosszügigkeit, zum anderen den Neid. Zunächst beneidet er die Eritreerin, die in seinem Wohnhaus am Empfang arbeitet, darum, “selbst in diesem Tal hier aus dem Staunen kaum heraus”zu kommen, später beneidet er den Nigerianer Taylor um sein “Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand ausser Frau und Tochter und dem eigenen Mut”.

Die Flüchtlingsfiguren – die Eritreerin Aster, das stumme Mädchen, die nigerianische Familie – bleiben Nebenerscheinungen im Beziehungstheater der beiden Frührentner, auf deren jede Geste, jedes Haar, jeden Anflug eines schmachtenden Gefühls mehr literarische Energie verwandt wird als auf die Geschichten der Flüchtlinge. Ist das als Kritik an einer mitteleuropäischen Ignoranz gegenüber den geflüchteten Menschen zu verstehen? Nach dem Motto: wenn Flüchtlinge, dann nur, wenn sie dem eigenen Glück zur Vervollkommnung gereichen (Stichwort Raub des Flüchtlingsmädchens zur Komplettierung einer fiktiven Familie)? Ich kann es nicht abschliessend beurteilen – Ironie aber, so der stilistische Eindruck, liegt diesem Text weitgehend fern. Schade.

 

Kirchhoff, Bodo. Widerfahrnis. Frankfurter Verlagsanstalt, 2016. Gebunden m. Schutzumschlag, 224 Seiten. ISBN 978-3-627-00228-2.

Rezension: Elisabeth Schrom – Herbertgeschichten (Zytglogge, 2016)

Es beginnt mit dem Tod: morgens nach dem Aufwachen entdeckt Herbert – Rentner, seit dreissig Jahren alleinstehend und -wohnend – eine tote Heuschrecke auf seinem Schlafzimmerboden. Nicht irgendeine Heuschrecke, sondern den von ihm bereits benannten “David”, den er zwei Tage zuvor in seinem Schlafzimmer entdeckt und vergeblich zu fangen versucht hatte. “Ein schlechtes Omen, wenn der Tag mit dem Tod begann”, sagt sich Herbert. “An solchen Tagen blieb man besser daheim.”

Die kleinen, teils bizarren Eigenarten und Gedanken des Herbert bilden den Leitfaden all der Geschichten, die die 69jährige in Wien geborene Basler Schriftstellerin Elisabeth Schrom in ihrem Prosadebüt zu einer Erzählung vereint. Liebevoll, in einem lakonischen, aber dennoch einfühlsamen Ton führt sie ihren bisweilen arg verunsicherten Protagonisten über die Bühne seines Rentnerlebens, macht dabei die grossen existenziellen Fragen an den scheinbar unbedeutenden Details des Alltags fest.

Das Leben des Herbert ist geprägt von Ritualen wie dem alldienstäglichen Treffen mit seinem besten (einzigen verbleibenden) Freund Rudolf auf einer Parkbank. Beim Füttern der Spatzen diskutieren die beiden Männer dort über Gott und die Welt – wobei die interessantesten Aspekte in dem zu finden sind, worüber die beiden gerade nicht offen zu sprechen wagen. Die Liebe zum Beispiel.

Herbert hat sich über die Jahrzehnte unzählige Sammlungen geschaffen – unter anderem eine von 127 Spazierstöcken – , die seine Wohnung anfüllen und ihm die Ausrede bescheren, er habe gar keinen Platz für eine Frau. Rudolf, in scheinbar spiessiger Ehe mit der spröden Edith verheiratet (“Es ist schön, wenn man weiss, zu wem man gehört.”), unternimmt zaghafte Versuche seinen Freund Herbert zu verkuppeln. Er will diesen dem verkrampften Dasein, das sich in dreissig Jahren Alleinesein eingespielt hat, entreissen. Und tatsächlich tritt, nachdem Herbert auf eine Kontaktanzeige geantwortet hat, in welcher eine Italienerin nach einem “Ehemann wegen Existenzsicherung” suchte, die lebhafte, jüngere Ivana in sein Leben. Ein Versprechen von Drama, Abenteuer, Tragödie. Ihr Auftreten – ohne hier zu verraten, wohin es führt – ist ein Wendepunkt, vielleicht der Beginn dessen, was gerne der “zweite Frühling” genannt wird.

Autorin Elisabeth Schrom lotet in kurzen, einprägsamen Szenen die Ängste und Freuden, die vielfältigen Ambivalenzen des Älterwerdens, Pensioniertseins, des Alleine- und des Zusammenseins aus. In aussagekräftigen Bildern und Dialogen nähert sie sich den Persönlichkeiten ihrer Figuren und beschreibt deren Reaktionen auf die Einbrüche des Ungewissen in eine Welt, die auf den ersten Blick nur aus Routinen, Macken, kleinen Obsessionen und allumfassender Bequemlichkeit zu bestehen scheint.

Schrom findet die treffende, von subtilem Humor durchwirkte, Sprache für Herberts Geschichten, einen würdevollen Ton, der mit seiner Mischung aus Selbstironie, Fatalismus und immer wieder aufkeimender Lebenslust die Figuren auf die für manche grösste Hürde des Lebens zuführt. Und letztlich bleibt nur noch die letzte, die schwerste aller Fragen: Eichen-, Fichten- oder Kiefernsarg?

Von brennenden Dackeln und schmerzenden Molaren: Günter Grass – “örtlich betäubt” (1969)

Intellektuell verstiegenes Manifest eines sozialdemokratischen Biedermanns oder Zeugnis literarisch reflektierter Reife? “örtlich betäubt” war Günter Grass’ erster Roman nach der vielerorts umjubelten Danziger Trilogie (“Die Blechtrommel”, 1959; “Katz und Maus”, 1961; “Hundejahre”, 1963). In ihm finden wir heute nicht nur das anregende Zeugnis einer Zeit, als Literatur, Kritik und Politik noch enger verschränkt waren als heute, sondern auch ein faszinierendes literarisches Dokument und einen oftmals übergangenen Meilenstein im Leben und Schaffen seines Autors.

Für “örtlich betäubt” verliess Grass den Schauplatz der Trilogie und rückte in Westberlin ein. Er verliess das generationenweit unter den Röcken der Grossmutter ausholende Erzählen und gab stattdessen der Gegenwart den Vorrang. Er missachtete das, was in der “Danziger Trilogie” die Glorie des Romans betonte, und versuchte sich an einer manchmal ziemlich fordernden stilistischen Collage. Er war nun nicht mehr der Revolutionär, den manch ein Kritiker in ihm gesehen haben mag, sondern der gezähmte Widerspenstige, der biedere Sozialdemokrat.
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Veröffentlicht 1969, auf dem Höhepunkt von Grass’ persönlicher politischer Aktivität, ist der Roman einerseits Aufarbeitung von politischer Kritik, andererseits intellektuelles Plädoyer gegen die revolutionäre Tat.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht, als erzählendes Ich, der Lehrer Eberhard Starusch: in seinen Vierzigern, zum Studienrat “für Deutsch und also Geschichte” umgepolter Jugendbandenführer, einst Maschinenbaustudent mit geplanter Karriere im Zementgewerbe. In seinem gegenwärtigen Umfeld beschäftigt ihn vor allem der Schüler Philipp Scherbaum und dessen Planen, seinen Dackel Max auf dem Kurfürstendamm vor den tortenspachtelnden Damen in den Kaffeehäusern bei lebendigem Leib in Brand zu setzen: ein Zeichen gegen die Napalm-Verbrechen im fernen Vietnam. Staruschs mit Vernunftargumenten gestützte Resignation gegen Scherbaums von Angst gelenkten Willen zur Tat – dies ist der zentrale Konflikt des Romans. Den Sieg, das sei vorweggenommen, trägt die Resignation davon:

“Auch Scherbaum wird zu einem stehenden Gewässer. Da ihn die Welt schmerzt, geben wir uns Mühe, ihn örtlich zu betäuben. (Am Ende werden der Elternrat und das Lehrerkollegium den Schülern eine Raucherecke bewilligen, genau abgezirkelt hinter dem Fahrradschuppen.)”

Die Ironie liegt in “örtlich betäubt” stets offen zutage: Wie soll einer in Westberlin ein Zeichen gegen die Kriegsverbrechen in Südostasien setzen können, wo es doch schon schier unmenschlicher Anstrengungen bedarf, im Schulhaus eine Raucherecke bewilligt zu bekommen?

Das entmutigte Aufgeben hochtrabender revolutionärer Pläne zugunsten des gleichgültigen Lebens derer, die “schon alles hinter sich haben” steht im Mittelpunkt. Die reformistischen Tendenzen stiessen vielen deutschen Rezensenten sauer auf: Hellmuth Karasek schrieb in der Zeit: “Das Buch gibt Pfötchen, anstatt die Zähne zu zeigen.”, Rolf Becker im Spiegel beklagte Grass’ Verlust der “drastischen Konkretionen seiner Erzählphantasie und Sprachlust”, die ersetzt würden durch argumentativ gegen die Ideologie anschreibende Prosa.

Der Dialog Starusch – Scherbaum bildet nicht das einzige Streitgespräch des Romans. In der Person der Lehrerin Irmgard Seifert tritt eine ehemals dem Nazi-Regime verschriebene Person auf, die ihr Leben der Frage widmet, ob es für sie jemals Erlösung geben kann; Staruschs ehemalige Verlobte Sieglinde Krings tritt als Figur in imaginären Szenarien des Erzählers in Erscheinung, während derer sie ihren unbelehrt aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Vater, zur Vernunft zu bringen sucht; und Vero Lewand letztlich, Scherbaums Freundin, fungiert als kompromisslose Revolutionärin, die sich allen Anpassungsreden Staruschs verweigert.

Die unterschiedlichen Erzählebenen überlappen sich ständig – eine Unterscheidung zwischen fiktiven, sich im Kopf des Erzählers abspielenden Ereignissen und tatsächlichen Geschehnissen der Geschichte fällt bisweilen schwer. Die Rahmung des Ganzen bilden Staruschs Besuche bei und Telefongespräche mit seinem philosophisch bewanderten Zahnarzt, der die “grosse allesumfassende Weltkrankenfürsorge, die uns nicht regiert, sondern versorgt, die uns nicht ändern will, sondern wird, die uns, wie schon Seneca sagt, Musse für unsere Gebrechen schenkt” predigt. Er wird zunehmend zur ersten und wichtigsten Vertrauensperson des Studienrats.

Die überstrapazierten Zahnschmerz-Metaphern, die zuweilen vielleicht etwas intellektuell verstiegenen theoretischen Reflektionen, die anbiedernde Quintessenz: all dies hat dem Roman zur Zeit seiner Erstveröffentlichung teils scharfe Kritik eingetragen (Dies, notabene, vor allem in Deutschland. In den USA etwa wurde der Roman frenetisch gefeiert, Grass schaffte es 1970 gar als erster deutscher Literat nach dem Krieg auf die Titelseite des Times-Magazins, Untertitel: “A Man Who Can Speak To The Young”).

Aus meiner heutigen Perspektive – der Perspektive eines Mitteleuropäers, der 1969 noch nicht auf der Welt war – erscheint “örtlich betäubt” als stilistisch irritierendes, aber hochinteressantes sozio-politisches Stimmungsbild eines zeitlich und örtlich bestimmten Milieus (Westberlin 1969), dessen Behandlung zentraler Konflikte aber durchaus auch für die heutige Zeit brauchbare Anregungen bietet. Gerade die Fragen nach Sinn oder Widersinn revolutionärer Taten und der angemessenen Reaktion auf nur aus der Ferne wahrgenommene Greuel scheinen mir 2016 ebenso dringlich und relevant.

“Ein unendlich tiefes Verlangen nach Beständigkeit”: Jón Kalman Stefánsson – “Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit” (2001)

“In diesen Jahren ist mir klar geworden, dass niemandem die glückliche Gabe verliehen ist, sein ganzes Leben lang Kind zu bleiben. Man wird älter, hört auf Kind zu sein, wird zu gross, zu ernst. Manchmal habe ich den Verdacht, Erwachsene sind gestorbene Kinder. Wenn es so ist, dann ist auch meine Schwester gestorben und eine Frau ist an ihre Stelle getreten, eine blöde Kuh in roter Unterwäsche.”

Im Roman “Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit” (2001), mit dem Jón Kalman Stefánsson 2004 für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert war, erzählt der isländische Autor eine einfache Coming-of-Age-Geschichte, die mit ihren unverblümten Metaphern und den zwischen Lustigkeit und Melancholie schwankenden Betrachtungen zu gefallen weiss.

Etwas irritierend ist zunächst die Erzählperspektive: ein Ich-Erzähler, ungefähr vierzig Jahre alt, erzählt rückblickend von seiner ersten Auslandsreise, in einem Sommer, als er gerade einmal zehn Jahre jung war (ca. 1971/72). Von Reykjavik, wo er mit Vater und Stiefmutter lebt, geht die Reise in die südnorwegische Ölmetropole Stavanger, wo die ältere Halbschwester mit den Grosseltern lebt. Obschon im Erwachsenenalter erzählt, wird die naive Perspektive des Zehnjährigen entfaltet, dessen Welterfahrung noch auf dem Grundprinzip des Staunens basiert.

Der Junge begegnet im sommerlich warmen Norwegen zunächst seiner Familie – dem fantasiebegabten Grossvater, der zu seinem Verbündeten wird, der stählernen Grossmutter, die den Haushalt mit harter Hand führt, und der Halbschwester, die eigentlich im Mittelpunkt der Erzählung hätte stehen sollen, dann aber zur Nebenfigur verdammt wird. Wichtiger für den Zehnjährigen sind einerseits seine imaginären Freunde – Tarzan und Flinker Hirsch -, deren Abenteuerlust der Junge dann andererseits im richtigen Leben mit den Brüdern Björn und Erik auf verbotenen Walderkundungen, beim mutprobenden Spinnenfressen oder beim Verkauf der schwesterlichen Unterwäsche an Jugendliche ausleben darf. Daneben begegnet er Helge, dem Uncoolen, dem Besserwisser, der sich täglich durch die väterliche Bibliothek wühlt und alles über Astronomie und Geschichte weiss, aber nichts über das Leben. Er begegnet Arne, dem langhaarigen Popularitätsprotz, der so cool ist, dass er als “göttliche Erscheinung” wirkt. Und er begegnet Tora, die ihn an ihren langen Zöpfen ziehen lässt; eine erste vage Andeutung von Zärtlichkeit.

Das Figurenkabinett und sein Treiben entsprechen einem klassischen Schelmenroman. Die rites de passage des Jungen, seine immer wieder aufblitzenden Einsichten in das, was er sich unter dem Erwachsenenleben vorstellt, bringen zudem den Bildungs- und Entwicklungsroman ins Spiel. Durchbrochen werden die Erzählungen von Zeit zu Zeit durch Reflexionen des Vierzigjährigen, die sich oftmals mit dem viel zu frühen Tod des Grossvaters auseinandersetzen – ohne dabei jedoch der kühleren emotionalen Distanz der “Erwachsenen” anheimzufallen. Der Tod bleibt für den Erzähler stets das Unbegreifliche, Unerklärte.

“Das Weltbild meiner Kindheit war wie die Sowjetunion: ein solides, unerschütterliches Ganzes an der Oberfläche, aber darunter lauerten bereits Lügen und Zerfall. So sieht’s aus: Man reist mit einer Landkarte von gestern durchs Leben. Was einmal ganz im Westen lag, ist nun womöglich im Norden, eine Stadt, die Leningrad hiess, heisst auf einmal Sankt Petersburg, wie in uralten Zeiten, lange vor heute. Was heute neu ist, landet am Abend schon im Museum des Lebens und das einzig Beständige ist ein unendlich tiefes Verlangen nach Beständigkeit, eine Sehnsucht danach, in der alten Welt aufzuwachen, in der die Landkarten noch stimmen und dem Kompass zu trauen ist.”

Das Coming-of-Age des jungen Erzählers, verpackt in einen symbolischen Sommer, ist im Grunde eine literarische Banalität. Der Einsatz einer kindlich-naiven Erzählperspektive ist ebenfalls nicht einzigartig, er war zu Beginn des 21. Jahrhunderts en vogue: prominente Beispiele sind etwa Jonathan Safran Foers “Extrem laut und unglaublich nah” (2005) sowie in deutscher Sprache Saša Stanišićs “Wie der Soldat das Grammofon repariert” (2006). Während diese beiden die kindliche Perspektive aber jeweils mit einem politischen Ereignis (9/11 respektive der Jugoslawienkrieg) kontrastieren und so eine gewisse Schockwirkung erreichen, wählt Stefánsson für seine Erzählungen einen weltpolitisch ereignislosen Sommer in den Vorgärten Südnorwegens, der für den Erzähler dennoch die Welt auf den Kopf zu stellen vermag.

Nichtsdestotrotz ist “Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit” ein gewitztes Buch mit genügend emotionalem Tiefgang und entzückend bilder- und metaphernfreudiger Sprache, um über die volle Strecke zu fesseln.

Stefánsson, Jon Kalman: Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Stuttgart: Reclam 2008. Taschenbuch, 208 S. ISBN 978-3-15-020164-0

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“Die Stadt, mein Kind, ist ein Höllenpfuhl.”: Carmen Laforet – Nada (1945)

Mit ihrem Romandebüt “Nada” (zu Deutsch “Nichts”) gewann Carmen Laforet 1944. mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren, den allerersten Premio Nadal, heute eine der wichtigsten spanischen Literaturauszeichnungen. Bereits 1947 wurde das Werk verfilmt, 1952 erschien es erstmals auf Deutsch. Laforet wurde 1921 in Barcelona geboren, verbrachte ihre Kindheit auf Gran Canaria und kehrte 1939 nach Barcelona zurück, um Philosophie zu studieren. Drei Jahre später zog sie weiter nach Madrid.

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Diese Rückkehr nach Barcelona zum Studium und die spätere Weiterreise nach Madrid teilt sie mit der Protagonistin ihres ersten (und somit zu einem gewissen Teil auch autobiographischen) Romans, der achtzehnjährigen Andrea.

Nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs kehrt Andrea erstmals nach vielen Jahren nach Barcelona zurück, um zu studieren. Ihren Wohnsitz nimmt sie bei Verwandten in der Calle de Aribau – ein Haushalt, den sie aus der Kindheit als lebhaft und frohgemut in Erinnerung hat, den sie nun jedoch in einen bösartigen, dem Untergang geweihten Albtraum wiederfindet.

Sieben Personen hausen in der finsteren, verwinkelten Wohnung. Da ist zunächst einmal die Grossmutter, eine verhutzelte, vergessliche Frau, die sich dem Niedergang ihrer einst glorreichen Familie nicht mehr zur Wehr zu setzen vermag, aber versucht verzeihend allen gegenüber zu sein. Zwei ihrer Söhne, Andreas Onkel, leben auch in der Calle de Aribau: der intrigante Romàn, ein begnadeter, aber fauler und überheblicher Musiker, der sich darauf versteht, die restlichen Mitglieder des Haushalts mit seinen Provokationen gegen einander aufzubringen. Seine liebsten Opfer sind sein Bruder Juan, ein talentloser Maler von unberechenbarer Gewalttätigkeit, der seine hübsche, aber naive junge Frau Gloria vor den Augen des kleinen Sohnes regelmässig verschlägt und wüsteste Todesdrohungen ausstösst. Er will sich nicht eingestehen, dass genau diese Gloria, indem sie Möbel und Lampen verkauft und nachts bei ihrer Schwester an illegalen Spielen teilnimmt, als Einzige Geld in den Haushalt einbringt und diesen über Wasser hält.  Mit Argusaugen daneben steht die erzreligiöse Tante Angustias, die die eingeschüchterte Andrea unter ihre Fittiche nimmt, ihr einredet, die Stadt sei ein “Höllenpfuhl”, in der ein Mädchen eine “Festung” sein müsse – bis sie, Angustias, letztlich enttäuscht ins Kloster zurückkehrt. Und dann ist da, in einer schamlosen Nebenrolle, noch das Hausmädchen Antonia, das an den Türen lauscht, jede Streitigkeit und jedes Misstrauen des Hauses kennt und schadenfreudig verfolgt…

In dieses Panoptikum menschlicher Unzulänglichkeit wirft Laforet ihre bemitleidenswerte Protagonistin, die sich ihren emotionalen Halt anderswo suchen muss. Erst als sie an der Universität die bildhübsche Ena kennenlernt, hat sie langsam das Gefühl, angekommen zu sein, Freundschaft gefunden zu haben. Als Ena jedoch plötzlich Bekanntschaft mit Andreas faszinierendem Onkel Romàn schliesst, kommt es zum Bruch…

««Sei kein Dickkopf, Nichte», sagte Juan. «Du wirst noch verhungern.»
Und er fasste mich mit ungeschickter Zärtlichkeit an den Schultern.
«Nein, danke, ich komme gut zurecht…»
Ich musterte meinen Onkel flüchtig von der Seite und sah, dass es auch ihm schon besser gegangen war. Er hatte mich dabei ertappt, wie ich das kalte Gemüsewasser getrunken hatte, das vergessen in einem Winkel der Küche stand, um weggegossen zu werden.
Antonia hatte angewidert ausgerufen:
«Was sind denn das für Schweinereien?»
Ich lief rot an.
«Mir schmeckt die Brühe eben. Und da man sie ohnehin weggegossen hätte…»
Auf Antonias Schrei hin waren die anderen herbeigelaufen. Juan schlug mir vor, einen finanziellen Kompromiss zu schliessen. Ich lehnte ab.»

In einer einfachen Sprache von grosser Ernsthaftigkeit, die keine Verschleierungen kennt, schildert Laforet die klaustrophobische Atmosphäre der Calle de Aribau, wo kein Wort ungehört bleibt und kein Gemüsewasser ungetrunken. Andrea ist eine grundehrliche Erzählerin, die personifizierte Unschuld in einer in unauflösbare Widersprüche verstrickten Welt. Die politische Dimension der Geschichte – das zerrüttete Spanien, das aus dem Bürgerkrieg direkt in die Franco-Diktatur gefallen ist – wird von der Autorin höchstens in Nebensätzen angedeutet, schwebt aber doch wie eine unausgesprochene Drohung hinter jedem Satz. Der erbärmliche Fall des Hauses in die Armut, die Missgunst, die Gewalt an den Nächsten – sie alle widerspiegeln die historisch-politische Situation Spaniens in den 1940er-Jahren.

Auch wenn Laforets Sprache in ihrer bisweilen fast pathetischen Ernsthaftigkeit, mit der sie die emotionalen Tumulte der jungen Frau wachruft, heute keinesfalls mehr zeitgemäss wirkt (ja, es vielleicht auch 1945 nicht war), ist “Nada” eine erfrischend unverblümte Lektüre – und geht vielleicht gerade deswegen nahe. In Zeiten, da die europäische Gegenwartsliteratur eine Schwemme an verschwiegener Auslassungs- und Andeutungsprosa erlebt, erscheint dieser Roman aus 1945 wie ein leuchtender Stern der Ehrlichkeit und Unverstelltheit.

Aufruf zum Widerstand: Ignazio Silone – Wein und Brot (1936/1955)

Ignazio Silones Roman “Wein und Brot” darf zweifellos zu den wichtigsten literarischen Dokumenten gezählt werden, die während des Zweiten Weltkriegs von Autoren im Schweizer Exil verfasst wurden. Der Text ist Überbringer einer mal mehr mal weniger durch das Kostüm des Abenteuerromans verschleierten moralisch-politischen Botschaft; ein von berückenden Landschaftsbildern gerahmter Aufruf zum Widerstand.

Zum Autor: Ignazio Silone kam am 1. Mai 1900 im kleinen Ort Pescina in den Abruzzen als Secondino Tranquilli zur Welt. Das Erdbeben von Avezzano am 13. Januar 1915 zerstörte seine Familie: lediglich er und sein kleiner Bruder Romolo überlebten, Mutter und fünf Geschwister kamen ums Leben. Zwei Jahre später traf er eine folgenreiche politische Entscheidung: er trat der sozialistischen Jugend bei. 1921 war er an der Gründung der kommunistischen Partei Italiens beteiligt. Noch im selben Jahr bereiste er erstmals Moskau; 1927 war er an der Kominternsitzung beteiligt, an der die Liquidierung Trotzkis beschlossen wurde. “Einstimmig”, wie es später hiess, obschon Silone – als Einziger – Einwände gehabt hatte. So geriet er erstmals auf Konfrontationskurs mit der Partei. Und genauso wie Ignazio Silone, der in einem Priesterseminar erzogen worden war, sich einst von der Kirche abgewandt hatte, wandte er sich nun von der Partei ab – er konnte seine Ansichten nicht mehr mit den Widersprüchen der kommunistischen Doktrin vereinbaren.

In den frühen Dreissigerjahren wurde Silone zu einer prominenten Figur in den Zürcher Emigrantenkreisen. Er war in die Schweiz gelangt als von Mussolinis Häschern, auf faschistischen Fahndungslisten geführter und gleichsam als von der kommunistischen Partei exkommunizierter Flüchtling. Später, nach seiner Rückkehr ins befreite Rom 1944 und seiner endgültigen Abwendung von jeder Form institutioneller Politik, wird er sich als “Sozialisten ohne Partei und Christ ohne Kirche” bezeichnen.

Während der Zeit der faschistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs verblieb Silone in der Schweiz, wo unter dem Eindruck der faschistischen Besetzung Abessiniens und der von Stalin inszenierten Moskauer Prozesse 1936 der Roman “Brot und Wein” entstand, der 1955 vom Autor nochmals überarbeitet und in der neuen Fassung unter dem Titel “Wein und Brot” wiederveröffentlicht wurde. Wie Silone im Nachwort der überarbeiteten Ausgabe schreibt, war es einerseits die Scham für die Kriegsbegeisterung vieler Italiener, die Gleichgültigkeit der grossen Mehrheit der Bevölkerung und die Ohnmacht der Antifaschisten, andererseits “das Entsetzen und der Ekel darüber, dass ich in meiner Jugend einem Revolutionsideal gedient hatte, dass in seiner stalinistischen Form nichts anderes war als – so schrieb ich damals – “roter Faschismus.””, die ihm als Antrieb beim Verfassen von “Brot und Wein” dienten.

In anderen im Zürcher Exil entstandenen Schriften fand er ungleich härtere Worte. In “Die Schule der Diktatoren” (1938) etwa heisst es: “Die wissenschaftlich genaueste Definition des Faschismus ist vielleicht diese: der Faschismus ist die Margarine des Geisteslebens. In einer Epoche von so ausgesprochener geistigen Verblödung, wie der unseren, ersetzt der Faschismus die Wahrhaftigkeit des Denkens, die traditionelle Religion, die authentische Kunst, die Gewissensfreiheit.” (Zitat in Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz, 1978).

Der Schriftsteller R.J. Humm, in dessen Salon Silone Stammgast war schrieb über Silone: “Er war immer von Kopf bis Fuss ein Römer, oder viel mehr ein Samnite, der ein Römer geblieben war, während die anderen Römer Hampelmänner geworden.” (R.J. Humm: Bei uns im Rabenhaus)

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Der Roman “Wein und Brot” – ich beziehe mich auf di Überarbeitung von 1955 – trägt deutlich autobiographische Züge. Im Mittelpunkt der Handlung steht der junge sozialistische Revolutionär Pietro Spina, der vor Mussolinis Schergen ins Ausland flüchten musste, dort aber nicht leben konnte und in einem Nacht-und-Nebel-Unterfangen wieder in die feindliche Heimat zurückkehrt. Ehemalige Freunde helfen ihm, sich zu verstecken. Spina schlüpft in die Identität des Priesters Don Paolo – gerade er, der mit der Kirche gebrochen hat – und versteckt sich im abgelegenen, von Naturkatastrophen geplagten Bergdorf Pietrasecca in den Abruzzen. Zur Untätigkeit verdammt und geplagt von einer schweren Lungenkrankheit (auch dies autobiographisch), nähert sich der Revolutionär Spina, im Kostüm des Pfarrers, einer gottesfürchtigen Dorfbevölkerung.

Deren Kern bilden die cafoni, die armen Bauern, von denen Spina zunächst aber, weil ihn seine Krankheit ans Bett fesselt, nicht viel mitbekommt. Es sind die Frauen, die er zuerst kennenlernt: seine Gastgeberin, die Wirtin Malatenta, die bald eine gefährliche Obsession für “ihren” Priester entwickelt und ihn mithilfe einer umtriebigen Kräuterfrau quasi zum Verbleib im Dorf hexen will; Bianchina, ein Mädchen aus dem Nachbardorf, die fest davon überzeugt ist, Don Paolo sei ein Heiliger, der ihr das Leben gerettet habe; Cristina, die unschuldige Tochter des ehemaligen reichsten Mannes im Dorfe, dessen Existenz nun jedoch gefährdet ist.

Im Nachwort zur überarbeiteten Ausgabe schreibt Ignazio Silone: “Was schliesslich den Stil betrifft, so erscheint es mir als höchste Weisheit, beim Erzählen einfach zu sein.” Es ist diese einfache Sprache – stilistisch wird Silone oft dem Neorealismus zugeordnet – , die die Menschen und Gedanken des Dorfes Pietrasecca lebhaft werden lässt. Eindrücklich sind manche Passagen, in denen sich die Dialoge zwischen dem im Priestergewand gefangenen Spina – Lebensmotto: “Man darf nicht in Erwartung leben. […] Man muss handeln. Man muss sagen: Genug. Ab heute.” – und den resignierten, abgearbeiteten Bauern entspinnen, deren Kernsatz lautet: “Die Dinge nehmen ihren Lauf. […] Wie das Wasser des Flusses. Es nützt nichts, dass man sie versteht.”

Silone lässt seine politische Botschaft, die Aufforderung zum Widerstand, unmissverständlich und nicht zu knapp in den Text einfliessen. Aus einer literarischen Perspektive mag das bisweilen als etwas “zu viel des Guten” erscheinen, als stilistische Unsauberkeit, inhaltlich jedoch ergibt es Sinn: die häufigen Nachfragen, die unablässigen Bemühungen, mit allen irgendwie verfügbaren Mitteln den Kampf wieder aufzunehmen, die Rastlosigkeit – es sind alles Weckrufe gegen die Lethargie derer, die das Denken eingestellt haben oder es sich vermeintlich nicht leisten können; es sind Fanale für den Widerstand in bedrängter Zeit.

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Grosse Teile des Werks von Ignazio Silone sind auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Eine weitere Blog-Rezension des Romans findet sich auf Sätze & Schätze (2014).

 

 

Wiederentdeckung: Claude Cueni – Weisser Lärm. Alptraum vom Grossen Bruder (1981)

Ein seltsames schmales Büchlein fiel mir unlängst in die Hände: das Cover in alarmistischem Gelb, geziert von einem zerzausten roten Katzenköpfchen. Darüber die Aufschrift: “Claude Cueni / Weisser Lärm / Roman / Alptraum vom Grossen Bruder”. Die Fischer-Taschenbuchausgabe (1983) eines Werks, das ursprünglich 1981 beim Aarauer Sauerländer-Verlag erschienen ist.

Der Autor Claude Cueni ist kein Unbekannter. Vor zwei Jahren verschaffte ihm der autobiographische Roman “Script Avenue”, in welchem er unter anderem vom Tod seiner grossen Liebe, von traumatischen Jugenderlebnissen und von seiner eigenen Krebserkrankung erzählt, eine grosse Medienpräsenz. Bekanntheit hatte der 1956 geborene Basler freilich schon zuvor: verschiedene historische Romane, beispielsweise die grosse Trilogie zur Geschichte des Geldes (“Cäsars Druide”, 1,998 “Das grosse Spiel”, 2006, “Gehet hin und tötet”, 2008), waren Bestseller. Des Weiteren arbeitete Cueni als Verfasser von Drehbüchern für diverse deutsche Krimiserien, etwa Peter Strohm und Eurocops. Was hingegen seine frühesten Romane betrifft, so scheinen diese weitgehend der Vergessenheit anheim gefallen zu sein.

Mindestens im Falle von “Weisser Lärm” vollkommen zu Unrecht. In diesem Frühwerk wird nicht die Vergangenheit, sondern eine mögliche Zukunft in den Blick gefasst. Es handelt sich dabei, wie der Orwell anrufende Untertitel schon andeutet, um eine klassische Dystopie, wie sie mir in dieser Ausprägung aus der Schweizer Literatur sonst nicht bekannt ist. Dystopie im helvetischen Literaturschaffen, das heisst vielfach nebelverhangene Bergstollen-Apokalypse: es sei etwa verwiesen auf Dürrenmatts “Der Winterkrieg in Tibet” (1981), Krachts “Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten” (2008) und in Ansätzen Burgers “Die künstliche Mutter” (1982) und . Cueni aber lässt uns eintauchen in einen beängstigenden Überwachungsstaat faschistoider Provenienz.

Die Hauptfigur Gustav Bender ist neunundzwanzig Jahre jung, arbeitet als Werbetexter bei der Adler Werbeagentur AG, lebt einsam und zurückgezogen mit seinem Kätzchen Sara in einer heruntergekommenen Wohnung. Als er eines Morgens mit dem unbestimmten Gefühl aufwacht, von einer todbringenden Krankheit befallen zu sein, und seinen Schwager, den Arzt Dr. Habicht, aufsucht, nehmen schreckliche Dinge ihren Lauf. Weil Bender aufgrund einer von irgendwelchen Obrigkeiten, deren genaue Führungsstruktur stets im Dunkeln bleibt, durchgeführten “Longitudinalstudie” zu einem potentiell gefährlichen Subjekt abgestempelt wird, werden er und alle Leute, mit denen er in Kontakt tritt, zu Opfern unerbittlicher Verfolgungen.

Es ist eine perverse Welt, die dieser Text lebhaft vor Augen führt: Alkoholmissbrauch, verstörende Sexualpraktiken, blutige Snuff-Pornos zu Geschäftszeiten. Leute schlafen nackt unter ihren Schreibtischen, im Keller der Agentur sitzen 143 Papageien und lernen einen Werbeslogan (“Miki!”) zu krächzen – und manchmal, manchmal hören Leute einfach auf zu existieren. So mindestens drückt es der korrupte und ekelhafte Agenturchef Adler aus, der den Protagonisten mit “Baby” anspricht, ihn und sich selbst mit Whisky abfüllt und ihm rät, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

“Ein kluger Kopf”, sagt er, “will als erstes keine Dummheiten machen.” Ein Satz, der das Denkverbot treffend zusammenfasst, das den Bürgern dieser dystopischen Gesellschaft auferlegt ist. Wer Fragen stellt, wird bestraft. Überraschende Verhaftungen, Personenkontrollen an jeder Quartiergrenze, seltsam gesichtslose Auftraggeber (alle mit Tiernamen), Zwangsumsiedlungen und Misstrauen gegenüber jeder noch so unscheinbaren Alltäglichkeit bestimmen das Dasein der Leute. Als Gustav Bender von einem “Geheimschutzbeauftragten” namens Bär den Auftrag erhält, in einem sogenannten Single-Wohnhaus den Müll der anderen Bewohner zu durchsuchen, ist er sich bald einmal nicht mehr sicher, ob wirklich nur er und nicht etwa jeder einzelne Bewohner dieses Hauses mit genau diesem Auftrag bedacht sei.

Der ganzen Thematik von der Früherkennung kriminalistischer Aktivitäten durch das Untersuchen des Abfalls, liegt im übrigen eine reale Medienberichterstattung zugrunde. Im Roman arbeiten einige Leute daran aus Medikamenten und einem Stoff, der in Käsepackungen zu finden ist, Sprengstoff herzustellen. Der “Spiegel” berichtete im September 1980 über derartige Vorfälle unter inhaftierten italienischen Rotbrigadisten.

Ist “Weisser Lärm” nun lediglich eine apokalyptische Groteske oder ein sozialpolitischer Alptraum, der näher an der heutigen Realität ist, als uns lieb ist? Mindestens was die technische Komponente betrifft, hat Cueni anno 1981 weise Voraussicht gehabt: elektronische “Wohnzimmersysteme”, “Bildschirmzeitungen” (wenn auch in diesem Fall keine portablen) und die bargeldlose Gesellschaft sind der Realität des 21. Jahrhunderts nah. Was die gesellschaftliche Struktur betrifft, das System totaler Überwachung von oben und alles durchdringender Bürokratie, so sind wir glücklicherweise heutzutage noch einige Schritte davon entfernt – der Diskurs jedoch ist brandaktuell, der “Überwachungsstaat” ein stets am Horizont dräuendes Schreckgespenst. Technische Möglichkeiten und historische Erfahrungen lassen die Erstehung eines derartigen Systems alles andere als unmöglich erscheinen.  Auch aus diesem Grunde ist Claude Cuenis zweiter Roman “Weisser Lärm” von grosser Aktualität. Das unlängst vom Schweizer Stimmvolk überraschend deutlich angenommene Nachrichtendienstgesetz lässt grüssen.

In einer Welt, in der keinem Menschen mehr vertraut werden kann, in der die persönliche Freiheit auf ein absolutes Minimum beschränkt ist, in der die letzte und einzige Wärme und Liebenswürdigkeit von einem verspielten kleinen Kätzchen ausgeht, lässt es sich nicht leben. “Weisser Lärm”, dieses erschreckende (und erschreckend gute) Frühwerk von Claude Cueni, fasst den Alptraum in lang nachhallende Worte. “Weisser Lärm” ist nicht nur ein spannendes Zeitdokument. Es ist eine erschütternde Geschichte darüber, wie wenig stichhaltige Argumente es braucht, um eine Person aus der Gesellschaft auszugrenzen, wenn nur genug Drohgebärden und Machtinstrumente aufgeboten werden. Und: Gerade in der heutigen Zeit ist der Text auch eine Mahnung, dass diffuse Ängste, etwa diejenige vor dem “Terror”, nicht das Aufgeben persönlicher Freiheiten befördern sollten – denn dies könnte weitaus schlimmere Folgen nach sich ziehen. 

Eine unbedingte Leseempfehlung.

Cueni, Claude. Weisser Lärm. Alptraum vom Grossen Bruder. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1983. 144 S. 3-596-22853-0

Rezension: Anna-Katharina Hahn – Das Kleid meiner Mutter (Suhrkamp, 2016)

Magischer Realismus? Schwarze Romantik? Künstlerroman? Generationenportrait aus der Zeit der Eurokrise? Die deutsche Autorin Anna-Katharina Hahn, die gemäss Homepage ihres Verlags als “eine der wichtigsten Erzählerinnen ihrer Generation” gelten soll, versucht sich in ihrem neuen Roman “Das Kleid meiner Mutter” an abenteuerlichen Genrekapriolen, leuchtet dabei stellenweise strahlend – scheitert zuletzt aber grandios.
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Zu Beginn begegnen wir Anita, einer jungen Spanierin, arbeitslos wie so viele aus ihrer Generation. Gemeinsam mit ihrer Freundesclique, die sich “La Plaga” nennt, hängt sie in den Parks von Madrid, trinkt, demonstriert gegen die unsäglichen Zustände in Spanien. Ihr Bruder Angel, ein Germanist, ist dem spanischen Unheil nach Deutschland entflohen, wo er jedoch nicht als Dozent, sondern auf einer Baustelle sein Geld verdient und es nach Hause schickt. Weil sie kein Geld mehr hat, lebt Anita bei den Eltern Oscar und Blanca. Eines Tages kehren die Eltern krank von einem Ausflug zurück, legen sich ins Bett und sterben. Und nun?

Zufällig bemerkt Anita, dass sie lediglich in das titelgebende Kleid ihrer Mutter zu schlüpfen braucht, um selbst von alten Bekannten für Blanca gehalten zu werden. Sie verschweigt den Tod der Eltern vorerst selbst den Freunden und dem Bruder und stürzt sich, kostümiert, in das Leben ihrer Mutter, über die sie weniger gewusst zu haben scheint, als sie dachte. Spätestens, als sich auf Blancas Handy ein mysteriöser Liebhaber namens “R.” meldet, verstrickt sich Anita hoffnungslos im Netz der dunklen Geheimnisse ihrer Eltern.

Alle Fäden scheinen in einem obskuren deutschen Schriftsteller zusammenzulaufen, der unter dem Namen Gert de Ruit grossen literarischen Ruhm geniesst – ohne dabei je in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es existiert lediglich eine einzige alte Fotografie des Autors. Es beginnt die Entwirrung eines Rätsels – wobei die Autorin es unterlässt, ihre Erzählerin auf eine detektivische Spurensuche zu schicken: alle relevanten Hinweisen kommen ihr schliesslich in einem dicken braunen Umschlag mit Aufzeichnungen verschiedener Personen wie zugeflogen.

“Das Kleid meiner Mutter” beginnt als durchaus packender Generationenroman über die perspektivlose Jugend Spaniens im Nachklang der Eurokrise, als detailhaltiges Portrait der Ängste, Sorgen und Hoffnungen einer Gruppe junger Menschen. Mit dem Erzählstrang um den unsichtbaren Schriftsteller De Ruit, der im Übrigen nicht lange unsichtbar bleibt, sondern bald schon auftaucht und nicht einmal halb so geheimnisvoll ist, wie vermutet, entwickelt Hahn eine neue Dimension. Bald schon kommen weitere dazu: es taucht die spanische Übersetzerin De Ruits auf, es taucht der Verleger auf, es tauchen De Ruits Eltern auf und die Geschichte seiner Kindheit in der Nazizeit wird zum Thema.

Es bedürfte einer unglaublichen erzählerischen Finesse, um all diese Erzählstränge (auf lediglich dreihundert Seiten!) geschickt auszubalancieren und zu einem zufriedenstellenden Ende zu bringen. Während die Balance bisweilen noch klappt, muss die Auflösung als vollkommen unbefriedigend bezeichnet werden. Man spürt förmlich, wie zerfahren das Ganze plötzlich geworden ist, wie unübersichtlich, ja unauflösbar. Alles gipfelt in einer kitschig-sentimentalen Schlussszene, in der der Versuch unternommen wird, die gesamte Geschichte aus der Ebene des Realistisch-Bedrohlichen auf die Ebene des Metaphorisch-Übertragenen zu hieven. Das in der Szene aufgerufene Bild soll aussagen: die Vergangenheit ist nun abgeschlossen, die Zukunft kann beginnen – die offenen Fragen des Lesers aber sind zahllos, etliche Figuren verschwinden wortlos, so dass am Ende wieder nur Anita und ihre Clique zu existieren scheinen…

Der berühmt-berüchtigte Kritiker Denis Scheck meint, das Buch entfalte “ein großes europäisches Tableau, ein romantisches Welttheater”. Das ist nicht nur unsäglich pathetisch, sondern auch rein topographisch allzu weit gefasst: “Das Kleid meiner Mutter” spielt zum grössten Teil im Spanien der Gegenwart und im nationalsozialistisch regierten Deutschland. Es hat Ansätze eines aufregenden und relevanten sozialkritischen Romans (vielleicht im Stile eines Rafael Chirbes), es hat Ansätze zu einem hochspannenden Versteckspiel mit einem dunklen und gefährlichen Unsichtbaren, es hat auch Ansätze zu einer grotesken Farce über den Literaturbetrieb. Letztlich aber wirken all diese Ansätze etwas beliebig zusammengewürfelt. Auch wenn verschiedene Passagen faszinierende Gedankenspiele in einer unfasslichen Zwischenwelt von Realität und Fiktion erlauben, bleibt ein schaler Beigeschmack. Momenten der Magie folgt der Frust eines unfertigen Werks.

Hahn, Anna-Katharina. Das Kleid meiner Mutter. Suhrkamp 2016. 311 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-518-42516-9

Rezension: Tom Appleton – Hessabi (Czernin-Verlag, 2016)

Beinahe siebzigjähriger Autor debütiert mit den Lebensansichten eines Teenagers. Kann das gut gehen? Im Falle von Tom Appletons „Hessabi“ ist das Experiment, mit einigen wenigen Abstrichen, geglückt.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Adam Hessabi, ein Deutscher persischer Abstammung, der auf seine Jugend in Bonn, Heidelberg und anderen deutschen Städten und Städtchen zurückblickt. Er erzählt acht turbulente Jahre seiner Jugend, namentlich die Zeit von 1960 bis 1968.

Adam lebt mit seiner Familie in Bad Godesberg. Diese Familie steht zunächst einmal im Mittelpunkt des Interesses: der Vater ein dicker, etwa siebzigjähriger Mann, der nichts von sich preisgibt – Adam ist es ein Rätsel, welcher Arbeit dieser Vater nachgeht; die Mutter ist eine trinkende und kettenrauchende Irre, die ihr gesamtes Umfeld mit widerwärtigsten Flüchen belegt und hin und wieder in eine geschlossene Anstalt überführt werden muss; und dann ist da noch der kleine Bruder, Bahador, in Adams Augen ein schmieriger Widerling, der nur auf seinen eigenen Profit bedacht ist. Von Beginn weg steht diese Familie im Zentrum des Geschehens, verbunden mit der ungeklärten Frage nach Adams Herkunft. Dieser nämlich hegt den Verdacht, seine Eltern seien gar nicht seine Eltern… Und dann tauchen immer wieder an seltsamen Ecken Deutschlands angebliche Verwandte auf, deren Existenz nur noch mehr Fragen aufwirft…

Ebenfalls zentral für die Erzählung werden bald Adams Rekapitulationen seiner mehrheitlich schlechten Erfahrungen mit dem deutschen Schul- und Internatssystem. Sadistische Willkür der Lehrpersonen und rassistische Stereotypen machen Adam das Leben schwer. Er muss häufig Klassen wiederholen, seine Anstrengungen werden zu oft nicht gewürdigt. Mitschüler und Lehrpersonen gleichermassen zerren an seinem klapprigen Nervenkostüm.

“Was die Schule betrifft, so war vom ersten Tag an alles klar. “Du Deutsch sprechen? Woher du kommen?” – “Leck mich am Arsch, ich bin aus Godesberg.” Ich war vielleicht der Jüngste im Lehrlingsheim, aber ich war der Älteste in meiner Schulklasse. Ich kam mir vor wie der Dorfidiot, der siebenmal sitzen geblieben ist und mit lauter Kleinkindern in der ersten Reihe sitzt.”

Befriedigung findet er vorab ausserhalb der Schule. Zunächst in der Musik, in den Songs, die er schreibt und von denen – so mindestens Adams Behauptung, die sich wie ein roter Faden durch den Text zieht – früher oder später viele unter anderem Namen, nur leicht abgeändert bei den Beatles landen, deren Erfolgsgeschichte in den frühen Sechzigerjahren gerade beginnt.

Und dann lernt er im Internat in Heidelberg die Amerikanerin Lucy kennen, die vermeintliche Liebe seines Lebens, die ihn in die Höhen und Tiefen amouröser Verstrickungen einführt. Einer Zukunft in trauter Zweisamkeit aber stehen etliche Hindernisse im Weg, die kaum überwindbar scheinen. Zumal auch die Familie ihre Vorstellungen davon hat, wie (oder eher: wen) ein junger Perser zu lieben hat. „Hessabi“ ist nicht nur die Geschichte eines jungen Persers auf der Suche nach seiner Herkunft; es ist nicht nur die Geschichte eines hellsichtigen Songwriters, dem die Musik ein ums andere Mal das Leben rettet; es ist auch die Geschichte eines jungen Mannes, der die Liebe entdeckt und von ihr Mal für Mal überrumpelt wird.

Tom Appleton gibt Adam Hessabi eine unverblümte Plauderstimme ohne Hemmungen, deren bevorzugtes Stilmittel die Anekdote ist. Mit reichlich Sprachfantasie begabt unternimmt der Erzähler eine Tour-de-Force durch eine oftmals problematische Jugend. Seine Rache an denen, die ihm das Leben schwer gemacht haben, nimmt er mit Worten von aggressiver Ironie. Obschon im tumultuosen Schlussteil bisweilen der Eindruck entsteht, es handle sich lediglich noch um eine Aneinanderreihung verschiedener Sex-Episoden, ist Appleton ein insgesamt höchst unterhaltsames Debüt gelungen, das die private Geschichte einer Jugend auch geschickt mit welthistorischen Ereignissen verknüpft.
Ein kleiner Wermutstropfen freilich bleibt: die Rätsel um die familiären Ursprünge bleiben auch zum Schluss weitgehend ungelöst; es ist der Fantasie der Leser überlassen, diese Geschichte zu Ende zu dichten.

Appleton, Tom. Hessabi. Wien : Czernin, 2016. 412 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-7076-0569-3